Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Selbsthilfe und sozial-psychiatrischer Praxis tauschten sich aus, wie Partizipationsmöglichkeiten ausgebaut werden können. Als Hartmut Kabelitz den Saal im Stuttgarter Hospitalhof am 17. Juli 2024 betrat, stützte er sich auf einen Rollator. Er sprach langsamer als die meisten anderen im Raum. Bis vor drei Jahren arbeitete Hartmut Kabelitz in einer Werkstatt für behinderte Menschen. „Ich war unzufrieden“, berichtete er den rund 120 Zuhörerinnen und Zuhörern des Fachtags. Weil er mehr kann, als dort von ihm erwartet wurde. Heute ist er Teil der Lehre und der Forschung des Annelie-Wellensiek-Zentrums der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er ist sozialversicherungspflichtig und unbefristet angestellt in der Inklusionsabteilung.

„Jetzt fühle ich mich eingebunden“

Nach einer dreijährigen Vollzeit-Qualifizierung an dem inklusiven Zentrum hat er seinen Abschluss zur Bildungsfachkraft gemacht. „Jetzt fühle ich mich eingebunden“, berichtete er. Mit Bildungsfachkräften fließt die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer von Inklusionsangeboten in Lehre und Forschung ein. „Sie bringen ihr Erfahrungswissen ein“, sagte Prof. Dr. Karin Terfloth, Leiterin des Annelie-Wellensiek-Zentrums. „Das ist Kompetenz auf einem anderen Wissensstand.“ Gemeinsam mit Hartmut Kabelitz hielt sie einen Vortrag über „Expertenwissen in Lehre, Fort- und Weiterbildung sowie Forschung“. Die Zusammenarbeit von institutionell-professioneller sowie bürgerliche Seite, wie Karin Terfloth es nannte, habe zu einer Entschleunigung im Forschungsablauf geführt. „Es geht darum, nicht über Menschen mit einer Beeinträchtigung zu forschen, ohne sie zu beteiligen.“ Hartmut Kabelitz sagte: „Meine Behinderung ist Grundlage der Beschäftigung und hat sich in eine Stärke umgewandelt." Durch seinen Beruf fühle er sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft.  

Die gesellschaftliche Existenz wiedererlangen

Ihr Schicksal zum Beruf gemacht hat auch Dr. Charlotte Klempt. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin arbeitet heute im Geschäftsfeld Teilhabe zum Leben bei der BruderhausDiakonie und ist im Vorstand des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener in Baden-Württemberg. „Fehlende Teilhabe wiegt schwerer als die medizinische Diagnose“, sagte sie in ihrem Vortrag „Die psychische Erkrankung als Krise der Gesellschaft“. Viele Psychiatrie-Erfahrene stünden am Rand der Gesellschaft. Bei der Genesung gehe es weniger um medizinische Rehabilitation als darum, die gesellschaftliche Existenz wiederzuerlangen und Selbstwirksamkeit zu erleben.

Genesungsbegleiter erleben Selbstwirksamkeit

Die Qualifikation zum Genesungsbegleiter/zur Genesungsbegleiterin bietet diese Möglichkeit. Psychiatrie-Erfahrene nutzen ihr Erfahrungswissen, um anderen Betroffenen zu helfen. So erleben sie Selbstwirksamkeit. Die Qualifikation kann den Weg zurück in ein geregeltes Berufsleben bedeuten und eine neue Lebensperspektive eröffnen. Für Erkrankte sind Genesungsbegleiter Menschen, die ihnen auf Augenhöhe begegnen, sagt Charlotte Klempt. Genesungsbegleiter sind beispielsweise in Psychiatrien, bei Sozialen Diensten oder sozialen Trägern von Wohngruppen angestellt. Unter dem Titel „Brücke Partizipation“ ermöglicht die Sozialpsychiatrie der BruderhausDiakonie psychisch erkrankten Menschen eine Ausbildung in Genesungsbegleitung. Das Qualifizierungsprojekt wird für zwei Jahre von der Soziallotterie Aktion Mensch im Programm „Wege ins Arbeitsleben“ sowie vom Innovationsfonds des Diakonischen Werks Württemberg gefördert.

Partizipation nützt Betroffenen und Organisationen

Dr. Tobias Staib, Vorstandsvorsitzender und Fachlicher Vorstand der BruderhausDiakonie, sagte in seiner Einführung: „Die BruderhausDiakonie gestaltet einen Fachtag Partizipation, um zwei sinnvolle Wirkmechanismen zu unterstützen: den positiven Effekt, den Partizipation auf Betroffene und auf die Organisation hat.“ Der Fachtag solle zusätzlich die Vernetzung von Betroffenen unter sich sowie die Vernetzung zwischen professionell Tätigen und Betroffenen unterstützen. „Der gegenseitige Austausch kann dazu führen, dass sich mehr realistische Vorstellungen durchsetzen, die tatsächlich Wirkung zeigen”, sagte Tobias Staib.

Am Nachmittag tauschten sich Psychiatrie-Erfahrene und in der Sozialpsychiatrie-Tätige in acht Workshops über verschiedene Möglichkeiten der Partizipation aus. Themen waren eine noch bessere Vernetzung in der Selbsthilfe, gelingende Mitbestimmung und Mitgestaltung durch Betroffene innerhalb von Organisationen sowie Behandlungsansätze, die Psychiatrie-Erfahrene miteinbeziehen.