Psychische Erkrankungen gehen häufig mit Erfahrungen von Verletzung, ausgeschlossen werden und gefühlter Machtlosigkeit einher. Für die Genesung spielt es eine große Rolle, die Erkrankung zu verstehen und sich mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Klientinnen und Klienten der Sozialpsychiatrie benötigen für diesen Schritt häufig fachliche Unterstützung. Wie diese aussehen kann, erfuhren gut einhundert Fachkräfte beim Fachtag „Biografie und Selbstwirksamkeit in der Sozialpsychiatrie – Vom Verstehen zum Handeln“ am 8. Oktober 2024 im Bildungshaus St. Luzen.

Biografiearbeit beginnt bei Bedarfsermittlung

Obwohl das Thema zentral für die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sei, bestehe die Gefahr, dass „Fachlichkeit so interpretiert werde, dass Dinge verloren gehen“, sagte Walter Riedel, Regionalleitung Tübingen, Freudenstadt, Zollernalb bei der BruderhausDiakonie. Der Fachtag habe auch die Funktion, den Paradigmenwechsel weg vom Versorgen hin zur Befähigung der Klienten zu bestärken. Seit Inkrafttreten des Gesetzes Anfang 2024 werden die Hilfen passgenau auf die Bedarfe der Klientinnen und Klienten zugeschnitten, weshalb bereits bei der Bedarfsermittlung durch den Kostenträger die Biografiearbeit beginne, so Riedel. Hierbei sei eine gute Zusammenarbeit zwischen Kostenträger und Leistungserbringer unerlässlich. In der Umsetzung seien Fachkräfte mehr denn je aufgefordert, von den Klientinnen und Klienten her zu denken und ihre Lebensgeschichte einzubeziehen. „Der Klient entscheidet, welche Ziele verfolgt werden und was für ihn gut ist“, sagte Walter Riedel.

Sozialdezernent: „Die Finanzierbarkeit wird uns noch lange beschäftigen“

Sozialdezernent Georg Link sprach in seinem Grußwort von „guten und fairen Lösungen, die wir bei Verhandlungen zum Bundesteilhabegesetz mit der BruderhausDiakonie für den Zollernalbkreis gefunden haben“. Und fügte hinzu: „Die Finanzierbarkeit wird uns noch lange beschäftigen.“ Im Zollernalbkreis sind 1400 Menschen in der Eingliederungshilfe, rund 450 von ihnen sind Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Psychische Erkrankungen treten häufig in Lebensphasen auf, die eine Veränderung verlangen, sagte Achim Dochat, Psychologischer Psychotherapeut, in seinem Vortrag. „Patientinnen und Patienten haben ein großes Bedürfnis, über die eigene Bedeutung der Erkrankung zu sprechen.“ Eine Aufgabe des Fachpersonals sei zuzuhören. „Leben mit einer psychischen Erkrankung ist ein täglicher Kampf gegen den Bedeutungsverlust und für die Integrität der eigenen Person.“ Haben die Klientinnen und Klienten eine Erklärung für ihre Erkrankung gefunden, „auch wenn sie eigensinnig ist“, erhöhe sich ihre Lebensqualität. „Wie Erkrankung und Exklusion so sind auch Rehabilitation und Inklusion biografische Prozesse“, sagte Dochat. Letztlich gehe es immer darum, Selbstwirksamkeit aufzubauen. Wirkliches Interesse an der Person und eine respektvolle Beziehung auf Augenhöhe führe zur Selbstermächtigung der Klientinnen und Klienten.

Techniken lernen, wie mit Schwierigkeiten umgegangen werden kann

„Genesung passiert außerhalb der Klinik im Kontext des Lebens“, sagte Dr. Gianfranco Zuaboni, Leiter Recovery College Bern und Pflege- und Gesundheitswissenschaftler, in seinem Vortrag zu Recovery – einem Konzept, welches das Genesungspotenzial von Menschen mit einer psychischen Erkrankung hervorhebt. Zum Genesungsprozess gehöre, Techniken zu erlernen, wie mit Schwierigkeiten im Leben umgegangen werden kann. Mittlerweile unterstützen Apps bei Selbstfürsorge, Medikamentenmanagement und Stressabbau. „Ich nutze eine App zur Entspannung“, berichtete er. Wenn Fachpersonal sich mit diesen Angeboten vertraut mache, könne es Erkrankte unterstützen, mit Apps zu arbeiten. Es gehe darum, Klientinnen und Klienten zu befähigen, ins Handeln zu kommen. Zur Genesung trage zudem bei, „Recovery-Geschichten anderer zu hören und die eigene Geschichte mit eigenen Worten und Begrifflichkeiten zu erzählen“. Wie sie als Psychiatrieerfahrene ihren Weg zu Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung gegangen sind, erzählten auf dem Fachtag die beiden Genesungsbegleiterinnen Heike Bader und Anna Kandel. Nach den Vorträgen am Vormittag tauschten sich die Fachkräfte am Nachmittag in Workshops aus.

Bild im Detail: Experten und Expertinnen durch Ausbildung oder aus Erfahrung tauschten sich beim Fachtag im Bildungshaus St. Luzen aus (von links): Michael Mennel, Fachbereichsleitung Sozialpsychiatrie und Behindertenhilfe Region Tübingen, Freudenstadt, Zollernalb bei der BruderhausDiakonie, Walter Riedel, Regionalleitung Tübingen, Freudenstadt, Zollernalb bei der BruderhausDiakonie, Achim Dochat, Psychologischer Psychotherapeut und Vorstand Landesverband Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg, Anna Kandel und Heike Bader, beide Genesungsbegleiterinnen. (Dr. Gianfranco Zuaboni fehlt auf dem Foto).